D O C U M E N T 2 7 4 M A Y 1 9 2 6 4 5 5 Da behaupten die Philosophen, es gebe eine geistige Welt oberhalb der sinnlichen. Man könnte sich auch ein Wesen vorstellen, das sich unter Vernachlässigung aller andern Organe ein riesengroßes Augenpaar herausgebildet hat und nun behauptet, es gebe jenseits der Welt, die man fühlt und riecht, eine sichtbare Welt. Und es hört auf, sich mit irgend etwas anderem abzugeben und sucht mit Hilfe seiner Augen immer kleinere Gegenstände zu bemerken. Diese Bemühungen nennt es Wissen- schaft. Andere Bemühungen ähnlicher Art nennt es „Kunst”. Wer sein ganzes Le- ben mit solchen Bemühungen zubringt, von dem wird gesagt, er habe den höchsten Lebenszweck erfüllt. Schließlich verkümmern die übrigen Organe und der ganze Organismus gerät aus dem Gleichgewicht. So bei uns Menschen. Man denke nur daran, wie fremd uns der Zustand völliger Gesundheit, also der einzig natürliche Zustand, geworden ist! Ich will mich nicht zu lang mit einem so tief philosophischen Gegenstand be- schäftigen. Ich verstehe vermutlich wenig davon. Vielleicht nicht mehr als die Leh- rer, die uns ¢allta² Tag für Tag mit ihrem seichten Geschwätz anöden.[5] Außerdem muß man Dir gegenüber vorsichtig sein, [d]enn Du bist selbstverständlich erhaben über meine primitiven Gedanken. Es ist zeitweise angenehm, einen so erhabenen Vater zu besitzen. Beispielsweise gibt mir mein Mathematiklehrer immer die Note 6, weil er denkt, wenn ich nicht ¢viel² oft aufstrecke, ich fühle mich zu gut dazu. Er meint, ich müsse notwendig ebenso begabt wie Du. Es ist zeitweise ziemlich unan- genehm, einen so erhabenen Vater zu haben. Man fühlt sich so unbedeutend. Es freut mich, daß Du meinen Brief Alfred Kerr gezeigt hast.[6] Selbst ein so ge- ringfügiges Ereignis ist im Stande, in mir einen gewissen Stolz auszulösen. Was hat Kerr dazu gesagt, im Falle, daß er überhaupt etwas da[zu] gesagt hat? Würdest Du mir ihn überhaupt ein wenig beschreiben? Menschen, die man nur aus ihren Wer- ken kennt, haben etwas Geheimnisvolles. Wenn man sie kennt, sind sie vermutlich den übrigen Menschen verdächtig ähnlich.— Du hast gesagt, Kerr schreibe etwas bizarr. Ich habe zufällig etwas gelesen, was er in der letzten Zeit geschrieben hat. Es schien mir auch etwas bizarr. Etwas abgehackt und unklar und schwer verständ- lich. So hat [er] aber früher nicht geschrieben. Zuweilen schreibt er auch Gedichte. Er findet manchmal gelungene Reime. Er reimt, ohne mit den Wimpern zu zucken: „omnes” mit „verschwomm’nes”.[7] Als Motto zu der „Welt im Drama” steht: Dein Ausdrucksziel: das Knappere! Der Inhalt: Aude sapere![8] Auch das folgende ist eine sehr komische Stelle. Sie ist der Schluß eines Be- richts über eine Theateraufführung. Und zwar wurde die Nachdichtung eines blutigen Sophokles-Dramas von Hofmannsthal gegeben:—
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